Am 20. Juni 1894 lief in Le Havre auf der Werft Abel Lemarchand ein Steuerkutter vom Stapel, der von dem jungen Piloten Eugène Prentout befehligt wurde. Er taufte ihn Marie-Fernand, nach dem Namen seiner beiden Kinder. Seine Berufung? Auf Handelsschiffe zuzulaufen, die am Horizont zu sehen sind, einen Lotsen an Bord zu nehmen und sie ohne Bruch bis zum Kai zu führen. Damals gab es etwa 40 Männer, die sich um diesen freien und harten Beruf auf einem Meer mit vielen Bänken und Strömungen stritten.
Auf den Segeln ist das Kennzeichen H23 mit einem schwarzen Anker aufgemalt: ein Zeichen der Anerkennung, aber auch des Stolzes. Das H steht für das Seeviertel von Le Havre, und die 23 bedeutet, dass es sich um den 23. Kutter in diesem offiziellen Register handelt. Diese Buchstaben und Zahlen, die groß auf das Großsegel gezeichnet waren, ermöglichten es, das Schiff von der Küste aus oder auf See schnell zu identifizieren. Sie waren auch ein Zeichen der Autorität im Beruf des Seelotsen und manchmal ein Vorteil bei Regatten: Man musste gesehen werden, und zwar schnell. Auch heute noch trägt Marie-Fernand stolz dieses Zeichen, das ihre Identität und die Erinnerung an den Kutterpiloten aus Le Havre bezeugt.

Marie-Fernand zeichnete sich schnell aus: Kaum einen Monat nach ihrem Stapellauf gewann sie die prestigeträchtige Pilotenregatta. Sein Architekt, Abel Lemarchand, hatte Techniken aus dem Yachtbau eingebaut, um die Struktur leichter zu machen und die Leistung zu verbessern: mit Dampf gebogene Spanten, Außenballast... Marie-Fernand war damals ein Prototyp, ein Segelboot, das seiner Zeit voraus war und auf Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit ausgelegt war.
Das harte Leben der Schwalben
An der Wende zum 20. Jahrhundert ist der Beruf des Lotsen ein Kampf gegen Wind und Wetter. Kutter warten nicht: Sie fahren aufs Meer hinaus, halten Ausschau nach Rauch, lesen die See, laufen ihrem Glück hinterher. Sie sind unabhängig und stehen daher in direkter Konkurrenz zueinander. Deshalb müssen ihre Segelboote, die berühmten Lotsenkutter, die schnellsten sein, um als Erste ein herannahendes Schiff zu treffen. Wer zuerst ankommt, erhält den Zuschlag. Ihre schlanken, dunklen Silhouetten haben ihnen den Spitznamen "Schwalben des Ärmelkanals" eingebracht.
Ende des 19. Jahrhunderts explodierte der Seeverkehr im Ärmelkanal. Der aufstrebende Hafen von Le Havre zieht jeden Tag mehr Schiffe aus der ganzen Welt an. In diesen anspruchsvollen Gewässern wissen selbst die erfahrensten Kapitäne, dass sie sich auf einen Mann aus der Region verlassen müssen: den Lotsen.
Denn nach der Landung, dem gefürchteten Moment, in dem man sich ohne Sicht und zuverlässige Orientierungspunkte der Küste nähert, lehnen nur wenige die wertvolle Hilfe dieser erfahrenen Seeleute ab. Der Kompass ist eines der wenigen verlässlichen Navigationsinstrumente, die Markierungen sind rudimentär und Funkgeräte gibt es noch nicht. Auf Sicht zu segeln, in einem nebelverhangenen Meer mit tückischen Strömungen, ist oft so, als würde man seine Ladung oder sogar sein Leben in der Lotterie verspielen.
Die Lotsen kennen jede Falle an der Küste: Untiefen, Sandbänke, bösartige Felsen und enge Passagen. Sie beherrschen den Umgang mit dem Lot, dem Blei, das man nach vorne laufen lässt, um den Meeresboden zu "lesen" und die berühmten Treppenstufen des Ärmelkanals zu erkennen, diese Tiefenunterschiede, die den richtigen Kurs anzeigen - oder den tödlichen Fehler. Dieses sensible Lesen des Meeresbodens, der sechste Sinn des Lotsen, ist das Erste, was den Schiffsjungen beigebracht wird, sobald sie an Bord gehen.

Die Besatzung an Bord besteht oft aus einem Skipper, einem Matrosen, einem Schiffsjungen und manchmal einem Seemann. Die Reihenfolge wird ausgelost, die Manöver sind akrobatisch und die Ausdauer ist absolut notwendig. Wenn der Wind auffrischt, wird die Segelfläche verkleinert: ein Reff im Großsegel, ein gerefftes Dreieck und eine Windfock. Wenn es ruhiger wird, werden die Boote zu Wasser gelassen und die Männer rudern, manchmal stundenlang. Und doch werden diese Männer nicht schwach.
1905 rettete Marie-Fernand die sieben Seeleute des Schoners Marthe, eine Heldentat, für die ihr Steuermann die Ehrenlegion erhielt. Eine von vielen Heldentaten in diesem Beruf, in dem Mut, Seemannsinstinkt und die Kenntnis der kleinsten Tücken der Küste zum Alltag gehörten.
Vom Lotsen zum Fischen, vom Vergnügen zum Vergessen
Im Jahr 1915 änderte sich der Beruf des Piloten: Dampfer verdrängten die Segelschiffe. Marie-Fernand wird für den Fischfang verkauft, bevor sie den Ärmelkanal überquert. Er ändert seinen Namen, wird abwechselnd in Marguerite II und dann in Leonora umbenannt. Über sechzig Jahre lang fuhr sie unter britischer Flagge.
Sie kreuzt zunächst in Cornwall und fährt dann an der schottischen Küste entlang. Sie wird von Archibald Cameron geführt, einem einsamen Seemann, der die Stille und den Whisky liebt. Er steuert den alten Kutter bis zu den Hebriden, wo Leonorade eine rustikale Jacht bekommt, die eine Mischung aus Beobachtungsposten für die Royal Navy und schwimmender Zuflucht für einen alternden Kapitän und seine treue Hündin ist.
Rückkehr nach Le Havre, 63 Jahre später
1985 plante ein Verein aus der Normandie, L'Hirondelle de la Manche, eine Nachbildung eines Steuerkutters aus Le Havre zu bauen. Wie durch ein Wunder meldet sich ein englischer Besitzer: Leonora ist nichts anderes als der letzte noch schwimmende Lotsenkutter aus Le Havre. Der Kauf erfolgt ohne Budget, aber mit einer tief verwurzelten Überzeugung.
Im Juni 1985 kehrte Marie-Fernand in ihren Heimathafen zurück und wurde wie ein Held eskortiert. Lotsenboote, Hubschrauber und eine ganze Flottille begrüßen sie auf der Reede von Le Havre, die wie ein Staatsschiff beflaggt ist.
Auf dem Kai entdecken ehemalige Piloten und junge Freiwillige eine gemeinsame Emotion. Das Boot steht da, abgenutzt, aber lebendig.

Eine geduldige Wiedergeburt
In den Werften von Honfleur wurden dreizehn Spanten ausgetauscht, die Planken neu gemacht und tote Werke restauriert. Die Takelage wurde neu aufgebaut und die Lotsenkammer anhand alter Beschreibungen sorgfältig rekonstruiert.
Dabei werden die Zeichen eines Jahrhunderts der Seefahrt nicht verleugnet, sondern getreu umgesetzt. 1986 wird Marie-Fernand zum historischen Denkmal erklärt. Éric Tabarly erklärt sich bereit, ihr Pate zu werden. Eine seltene Anerkennung für ein Arbeitsschiff, er, der jahrzehntelang für die Welt unsichtbar war.

Weiter navigieren
1992 nahm sie an den Voiles de la Liberté in Rouen und anschließend an Brest 92 teil, wo sie stolz ihren Platz unter den traditionellen Segelschiffen behauptete. Seitdem kehrt Marie-Fernand regelmäßig zu den großen Seglertreffen zurück, getragen von der Vereinigung L'Hirondelle de la Manche, ihren Freiwilligen und ihren Enthusiasten.
Im Jahr 2004 begann eine neue Phase ihres langen Lebens: Die Werft Le Guip in Brest, eine Hochburg für die Restaurierung des maritimen Erbes, wurde mit einer kompletten Neugestaltung beauftragt. Die Restaurierung umfasste die originalgetreue Wiederherstellung mehrerer Schlüsselelemente: Der Bug, der Steven, der Kiel und mehrere Spanten wurden ersetzt, während das Deck vollständig zerlegt wurde. Etwa 70 % der ursprünglichen Planken sind erhalten geblieben, was die bemerkenswerte Qualität des 1894 verwendeten Holzes beweist. Das Gesamtbudget beläuft sich auf 370.000 Euro, die durch eine Kombination aus öffentlichen Geldern, Eigenmitteln des Vereins und Bürgersubventionen finanziert werden.

Auch der mechanische Antrieb wurde neu konzipiert: Das Boot erhielt einen Max-Prop-Verstellpropeller und einen 115 PS starken Nanni-Dieselmotor, dessen Einbau eine besondere Anpassung erforderte. Der Motor kann nicht in der Achse des Schiffsrumpfes eingebaut werden, da dies die Struktur des Schiffs schwächen würde.
Am 13. Juli 2008 wurde die Marie-Fernand in Brest im Beisein der Witwe von Ãric Tabarly, dem historischen Paten des Schiffes, im Rahmen der Seefestspiele wieder zu Wasser gelassen. Der Rumpf ist fertiggestellt, aber am Kai wird noch an der Feinarbeit gearbeitet: Remotorisierung, Auskiesung, Installation des Euro-Masts, der von der Normandie zurückgebracht wurde, und Innenausbau.

Ein Verhalten auf See, das seiner Legende treu bleibt
Marie-Fernand ist 21 Meter lang, 4,20 Meter breit, hat einen Tiefgang von 2,50 Metern und trägt 225 Quadratmeter Segeltuch. Sie ist schnell, hat viel Segeltuch und ist bequem, auch wenn sie stark giert. Seine geschnitzte Pinne, sein hoher Pfeil, seine schwarz-weiße Lackierung: Alles an ihm erinnert an die Eleganz vergangener Zeiten.
Er fordert die Arme, belohnt aber die Anstrengungen. Es wird ein bisschen nass, aber es läuft gut. Die Segelmanöver bleiben körperlich anstrengend: Das Einholen der Großschot bei einer Halse erfordert zwei erfahrene und perfekt aufeinander abgestimmte Crewmitglieder. Aber an der Pinne hält sie ihren Kurs und ist selbst bei frischem Wind fügsam.
âeuros¨

Ein lebendiges Erbe
Auch heute noch reparieren, warten und vermitteln Freiwillige jeden Mittwoch. Sie sind Zimmerleute, Mechaniker, pensionierte Hafenarbeiter oder einfache Meeresliebhaber. Zwischen 20.000 und 25.000 Euro pro Jahr sind nötig, damit Marie-Fernand weiterleben kann.
Weit davon entfernt, ein starres Museum zu sein, ist es ein Schulschiff, ein Schiff der Erinnerung und des Vergnügens, das regelmäßig erfahrene Seeleute und neugierige Besucher an Bord nimmt. Sie ist mehr denn je eine Stimme aus Holz und Leinwand, die von einem ausgestorbenen Beruf erzählt: dem der Segellotsen.